Unter dem Eis
Es gibt diese eine Nacht in meinem Leben. Ich war damals Mitte zwanzig und hielt mich in dem Winter, in dem das geschah, was mein Leben veränderte, im Haus meiner Eltern an der niederrheinisch-holländischen Grenze auf. Die beiden waren für einige Tage verreist und ich kümmerte mich um Haus und Hof. Es waren geruhsame und mit Blick auf mein Studium auch arbeitsintensive Wintertage.
In der Küche des alten Hauses fühlte ich mich seit jeher am wohlsten. Hier saß ich seit Tagen über meiner Diplomarbeit. Auf der Anrichte dudelte das Radio. Die Lampe warf einen warmen Lichtschein auf den Tisch mit dem wilden Papierwust, den ich dort ausgebreitet hatte. Auch auf den Stühlen und dem Boden lagen Bücher, Zeitungsartikel, Registerauszüge und handbeschriebene Blätter. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und quälte mich durch dieses Chaos. Hier und da kritzelte ich mit einem Bleistift Anmerkungen an Textränder. Natürlich wusste ich, dass ich am nächsten Tag Schwierigkeiten haben würde, sie zu entziffern. Ich trank gerade den letzten Schluck eines Chablis aus dem Weinkeller meines Vaters, als eine Meldung in den Nachrichten um Mitternacht mich aufhorchen ließ: Die Eisdecke auf den Kanälen in den Niederlanden hatte die seit Tagen erwartete Dicke erreicht. Wenn sich die Kälte bis zum Wochenende hielt, sollte am kommenden Samstag, nach sieben Jahren Pause, erstmals wieder der traditionelle Elf-Städte-Lauf stattfinden. Bei diesen Worten erwachte meine alte Leidenschaft.
Ich schob Bleistifte, Papiere und Hefte zusammen und schaltete das Radio aus. In Gedanken schon beim Mühlenweiher, dem Tummelplatz meiner Kindheit und Jugend, hastete ich die Speichertreppe hinauf. Sie waren noch da! Zusammengeknotet hingen sie an einem Nagel neben dem Schrank. Meine Schlittschuhe. Auf dem See an der Mühle ein paar Runden drehen, wie in alten Zeiten, das würde herrlich werden. Mein Herz pochte und Vorfreude schoss durch meine Adern. Ob sich außer mir noch andere nächtliche Eisläufer einfinden würden?
Jacke, Schal, Mütze und rein in die alten Arbeitsstiefel. Einen Augenblick später stand ich die Kufen meiner Schlittschuhe umklammert auf der obersten Stufe der Steintreppe. Ich zog die Türe hinter mir ins Schloss. Die Kälte nahm mir im ersten Moment fast die Luft zum Atmen. Eine Welt ohne Makel lag vor mir. Schnee glitzerte im Mondlichtuf dem Dach der alten Scheune, dem zerbrochenen Pflug an der Mauer, den Tannenspitzen, überall wohin mein Blick fiel. Ich wählte die Abkürzung durch die Tannenschonung hinter dem Haus und freute mich über das Knirschen unter meinen Stiefeln. Im Wald verlor das Mondlicht an Leuchtkraft. Der Hauch einer Vorahnung von etwas Besonderem streifte mich und ich lief schneller.
Kurze Zeit später erreichte ich außer Atem die Mühle und blieb neben dem verwitterten Mühlrad stehen. So schön hatte ich meinen See nicht in Erinnerung. Die Eisfläche mit ihren Schneeschattierungen sah aus wie mit einem Pinsel gemalt. Rasch kletterte ich die Böschung hinunter. Meine Schritte krachten dabei geradezu in die Stille hinein. Unwillkürlich trat ich vorsichtiger auf, als ob ich mich anschleichen wollte. Gerade wollte ich über meine eigene Hasenfüßigkeit lachen, da sah ich am gegenüberliegenden Ufer des Sees eine dunkle Gestalt. Und während ich noch überlegte, ob es einer der Brüder vom Lagerhof sein könnte, rief er mich auch schon bei meinem Namen: „Alwine!“ Es klang unheimlich, vor allem das “i”, als ob es auf dem Weg über das Eis geschärft worden wäre. War es Karl, der älteste der Brüder, der dort drüben stand? Ich betrat das Eis und hielt quer über den See auf ihn zu.
Hin und wieder schaute ich zu Boden, um mit meinen Stiefeln nicht über die Unebenheiten auf der Eisdecke zu stolpern. Erst beim dritten oder vierten Blick erkannte ich es, dass es gar keine Unebenheiten gab. Im Gegenteil, das Eis war ein ebenmäßiger Spiegel. Zuerst dachte ich, durch den Mondschein wäre es zu einer Spiegelung gekommen. Neugierig blieb ich stehen. Das Eis war vollkommen transparent, so klar hatte ich es noch nie gesehen. Es lag wie eine riesige Glasscheibe auf dem See. In kleinen Schritten ging ich nach links, nach rechts, ein Stück zurück und wieder voran. So etwas konnte es nicht geben, und doch war es Wirklichkeit. Ich sah in den See hinein, bis tief in sein Inneres. Die Farben der Fische und Wasserpflanzen leuchteten, Steine lagen auf dem sandigen Grund, große und kleine. Autoreifen, ein Fahrrad, verrostete Blechdosen, dazwischen bewegte sich allerlei bekanntes und unbekanntes Getier. Dann entdeckte ich Häuser, einen Kirchturm. Allmählich fügte sich alles zu einem Dorf zusammen. Eine andere Welt unter dem Eis zeigte sich mir. Sie zog mich an, als gäbe es dort unten einen mächtigen Magneten. Ich legte mich mit meinem ganzen Körper auf die Eisfläche. Ich schaute und schaute, verzückt und entrückt. Ich konnte mich nicht sattsehen, wollte noch mehr – und am liebsten selbst hineintauchen. Da entdeckte ich das Kind.
Es war ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ihr schmaler Körper, von Haaren wie von Wasserpflanzen umflossen, glitt durch das Wasser. Mit meinen Händen hätte ich sie greifen können. So nah war sie mir und doch so fern. Und dann bemerkte sie mich. Ein bleiches Gesicht schaute durch das Eis zu mir herauf. In den Augen Erstaunen. Dort, wo meine Hände in Handschuhen auf dem Eis lagen, legte sie ihre Handflächen von unten dagegen. Eine scheue, fast zärtliche Geste. Sie suchte meine Augen und hielt meinen Blick fest. Sie wollte mir etwas sagen. Dann öffnete sie ihren Mund und Luftblasen strömten heraus.
Unsere Körper waren nur eine Handbreit voneinander entfernt. Wenige Zentimeter. Doch für mich unerreichbar.
Einen Augenblick später verschloss sich ihr Blick. Sie wandte ihr Gesicht von mir ab und schwamm davon. Einsam und traurig wie mir schien. Der Moment der Begegnung war vorbei.
Ich rührte mich und spürte die Kälte mit einer solchen Macht, dass ich kaum aufstehen konnte. Meine Glieder waren steif gefroren. Langsam kam ich zum Stehen und versuchte mit aller Kraft, ein Loch in das Eis zu treten. Ohne Erfolg. Ich erinnerte mich an den Mann am Ufer. Ich winkte und rief ihn laut und verzweifelt um Hilfe an. Ich sah mich nach meinen Schlittschuhen um, ergriff einen und versuchte, mit den Kufen das Eis zu durchbrechen. Ohne Erfolg. Mein Atem ging immer schneller. Ich keuchte. Inzwischen kam der Mann vom Ufer langsam zu mir herüber. In dem von Atemwolken vernebelten Gesicht erkannte ich Karl.
“Was tust du hier, Alwine?”
Ich zeigte stumm auf das Eis zu meinen Füßen und lag im nächsten Augenblick wieder auf der Eisfläche. Ich suchte das Kind, konnte es aber nicht finden.
„Alwine, was soll das?“
Mühsam kam ich erneut auf die Beine und lief voller Verzweiflung zum Ufer. Dort ragten Baumwurzeln aus dem Eis. In ihrer Nähe knarzte das nachgebende Eis unter mir. Mit voller Wucht sprang ich an dieser Stelle zwei, drei Mal auf die Eisfläche. Endlich zerbarst sie unter meinem Gewicht und ich glitt bis zu den Oberschenkeln ins Wasser. Sofort zerrte ich mir meine Handschuhe und meine Jacke vom Körper und vergrößerte mit bloßen Händen das Eisloch. Endlich. Einatmen. Untertauchen. Gerade war ich noch Alwine, 25 Jahre, Studentin, Tochter meiner Eltern, und … Ich ließ diese Gedanken im Eiswasser davon treiben. Denn seit ich sie gesehen hatte, war ich eine andere. Ich sank tiefer, ließ mich treiben und gab mich dem prickelnden Kältestrom in meinen Adern hin.
Nach wenigen Zügen kam das Mädchen voller Vertrauen auf mich zu geschwommen, bis sich unsere Hände berührten. Auf die Wärme, die von ihr ausging und die in meinen Körper strömte, war ich nicht gefasst. Das Wassermädchen sah mir in die Augen und zog mich in seine Welt, die jetzt auch meine war. Nichts lag mehr zwischen uns, alles verband uns. Der heiße Strom floss immer stärker aus ihrem Körper durch meinen und hob alle Grenzen auf. Ich war sie, sie war ich. Wir wurden eins. Nie zuvor hatte ich mich so gefühlt, so irrsinnig lebendig, wie in diesen Minuten meines Lebens. Die Zeit hielt den Atem an.
Doch dann griffen kräftige Hände nach mir. Brutale Gewalt zerrte mich aus dem Wasser. Nach Luft schnappend tauchte ich auf. Karl packte mein Handgelenk und zog mich Richtung Ufer. Ich versuchte, von ihm loszukommen. Das Eis krachte und splitterte bei unserem Kampf, in dem ich unterlag. Da wusste ich, es war vorbei. Es war ein Abschied für immer. Ich würde das Wassermädchen nie wiedersehen. Nur die Sehnsucht würde bleiben. Immer.
Karl schleifte mich zurück zum Gehöft meiner Eltern. Und irgendwann saßen wir Schulter an Schulter, in trockener Kleidung, eine Decke über uns gezogen auf den Dielen am Ofen. Aus angeschlagenen Tassen schlürften wir heißen Rotwein. Nach dem Erlebnis am See war meine Welt unscharf, bis mich Karls Stimme erreichte. Sein Gesicht war weiß vor Erschöpfung. Am See hatte er noch geschrien und getobt. Jetzt waren seine Worte leiser geworden, krochen in mich hinein, und ich konnte sie verstehen.
„Bist du verrückt, Alwine?”
„Nein.”
„Wolltest du dich umbringen?”
„Nein.”
„Was um Himmels Willen sollte das gerade am See dann sein?”
Was sollte ich ihm antworten? Ich schloss meine Augen – und sah in ihre. So nah und doch so unerreichbar. In meiner Brust saß die Trauer. Das niederschmetternde Wissen, nicht gelebt zu haben bis zu dem Augenblick, als ich sie das erste Mal sah. Und jetzt war ich von den Göttern oder wem auch immer betrogen worden um dieses andere Leben, diese andere Welt, in der ich nur ein paar Sekunden Gast sein durfte.
Ich saß neben Karl und weinte, weil es etwas von so unbeschreiblicher Schönheit gab, was mir für immer fehlen würde.
In dieser Nacht lag ich wach. Auch in den Nächten, die folgten, schlief ich kaum.
Das ist bis heute so geblieben.
Birgit Sonnberger (2024)