"Nehmt ihr auch einen?"

Kamal – Brief an Alia – Alia, danke für Deinen Brief. Ich lebe jetzt schon 8 Monate in dieser kleinen Stadt. Die Ziege im Sozialbüro, Du weißt schon, von der ich Dir geschrieben habe, die mit ihren kleinen Augen und dem meckrigen Gelächter, sagte gestern zu mir, dass ich den Verlust meiner Heimat bald überwunden hätte.  Ich hätte Glück, privat bei einer Familie zu wohnen, dadurch gäbe es bei mir schnelle Fortschritte in der Sprache und der kulturellen Anpassung. Ihre freundlichen Worte waren so leer und schlugen mein Herz mit voller Kraft. Die Familie besteht nur aus Hannes dem Mann und Christa der Frau. Außer mir wohnt hier keiner. Keine Kinder, Tanten, keine Großmutter, auch keine Tiere. Ich liege oft auf dem Bett in meinem Zimmer. Das ist mein Refugium. Doch es ist kalt, weil ich allein hier liege. Ich werde Dir sehr bald noch mal schreiben.  Kamal

Noch was Alia: Als Du und ich uns auf der Flucht trafen, träumten wir von unserer Freiheit. Sie zeigt sich mir nicht. Wie geht es Dir? Hältst du an deinen Träumen fest? Quälen Dich die Gedanken an Deinen Mann? Ich wünsche Dir, dass Du Deinen Mut behältst.

Alia – Brief an Kamal – Lieber Kamal, ich lerne die neue Sprache nur schwer. Ich vermisse den Klang des Arabischen. Ich sehne mich auch nach Deiner Stimme. Seit ein paar Wochen wohne ich in einem alten Hotel. Hier leben nur Flüchtlinge. Das Zimmer teile ich mir mit einer anderen Frau. Sie hat eine schöne Stimme. Nach dem Abendessen sitzen wir draußen auf den Eingangsstufen und singen unsere Lieder. So wie damals im ersten Lager.

Du hast mich nach meinem Mann gefragt. Die Unsicherheit ist vorbei, denn er ist nicht ertrunken. Er lebt, in einer Stadt 500 km entfernt von hier. Er hat mir geschrieben, dass er bald seine Dokumente erhält. Dann wird er zu mir kommen dürfen. Mein Herz klopft einen traurigen Rhythmus. Ich denke viel an Dich. Doch das ist mein letzter Brief.

Meine Liebe gehört Dir. Alia

Kamal – Alia, ich habe Deinen Brief bekommen, der mir sagt, dass es für uns kein Wir gibt. Aber es fühlt sich anders an. Erinnerst Du Dich, wie wir nach dem Gefecht auf der Flucht in diesem kleinen Boot auf dem Wasser schaukelten. Ich träume von diesen Tagen, die begleitet waren von den Wellen unserer Hoffnung.  Ein Teil von mir, der mit den Träumen und der Hoffnung, fällt auseinander. Zerschmettert hier auf dem dürren Betonboden in den Straßen dieser Stadt. Ich lebe, aber ich wusste nicht, dass das Leben so sein wird, 8000 km weg von daheim. Ich wünsche Dir ein gutes Leben. Kamal

Kamal riss die Seite von seinem Schreibblock herunter, faltete sie einmal in der Mitte und gleich noch einmal, bevor er sie in das Kuvert schob und die Adresse auf den Umschlag schrieb. Er drehte den Umschlag in seinen Händen und dachte nach. Er lebte inzwischen seit 10 Monaten im Haus von Christa und Hannes. Christa kochte und wusch seine Wäsche. Morgens und abends saßen sie zu dritt am Tisch. Hannes begleitete ihn in den ersten Wochen zu den Behörden und füllte Anträge mit ihm aus. In seiner Heimat war er Lehrer, doch hier fehlte ihm die Anerkennung. Vor drei Monaten hatte Hannes ihn gefragt, ob er Interesse hätte, die Arbeit in einer Tischlerei kennenzulernen. Seitdem arbeitete Kamal an den Nachmittagen in einem Tischlerbetrieb. Er mochte den Geruch von frisch gesägtem Holz und hatte Freude an der Arbeit mit seinen Händen. Hannes hatte ihn gefragt, ob er sich vorstellen könnte, diesen Beruf zu erlernen. Kamal hatte Ja gesagt und von einem Leben mit Alia geträumt. Doch eine gemeinsame Zukunft war nach ihrem letzten Brief unmöglich geworden. 

Er verließ das Haus. Auf dem Weg zur Post liefen seine dunklen und schweren Gedanken mit ihm. Er hörte wie so oft die Schüsse in seiner Nähe und sah die Bilder der zerstörten Häuser in den Städten Wardaks, in der ein Krieg in den nächsten überging. Je länger er diese Erinnerungen zuließ, umso schlechter fühlte er sich. Übelkeit drängte sich in seinen Magen. Das schneidende Bewusstsein, was er verloren hatte. Heimat.

Mit schweren Schritten lief er weiter. Er verspürte keinen Wunsch Afghanistan wiederzusehen, doch die Zukunft machte ihm Angst.  Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er fror und lief schneller.

Drei Wochen später – Hannes klopfte an Kamals Türe. Er hatte einen amtlich aussehenden Briefumschlag in der Hand, adressiert an Herrn Kamal Ardiz. Hannes wusste aus der Tagespresse um den Inhalt. Auf ein „Komm rein“ hin öffnete er die Türe. Kamal lag auf dem Bett.

„Darf ich?“ Hannes setzte sich auf den Schreibtischstuhl, Kamal erhob sich von der Matratze und blieb auf der Bettkante sitzen. Er nahm den Brief und öffnete ihn mit seinem Kugelschreiber.  Hannes half beim Lesen und Übersetzen. Danach sprachen die beiden miteinander.

„Es tut mir leid, dass du nicht bei uns bleiben kannst.“ Auch wenn Hannes nicht derjenige war, der diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte er sich schuldig. Kamal wandte den Kopf ab.  „Ich will nie wieder zurück“, seine Worte waren kaum zu verstehen. „Ich werde tun, was ich kann.“

Mehr gab es nicht zu sagen.

Christa und ihre Freundin Inge in der Küche

„Und du sagst, Kamal muss morgen abreisen? So schnell?“ Inge zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, irgendwas mit seiner Aufenthaltsgenehmigung oder der Wohnsitzauflage hat sich geändert. Ganz verstanden habe ich das Juristendeutsch des Schreibens nicht. Fakt ist: Er wird verlegt in eine anders Stadt. Ich glaube, Flensburg.“

„Das muss für ihn furchtbar sein. Er hat sich doch hier so gut eingelebt.“

Christa warf einen Blick zu Küchentüre und senkte ihre Stimme ein wenig. „Ja sicher, aber wenn ich ehrlich bin, bin ich sogar ein bisschen froh, dass er wieder gehen muss.“

„Ich dachte, Hannes und du, ihr kommt gut zurecht mit ihm.“

„Ja, aber weißt du, er bleibt doch irgendwie fremd …“

„Wie geht es Kamal denn jetzt?“ Inge schaute ihrer Freundin zu. Aus ihrem Gesichtsausdruck sprach Besorgnis.

„Ich weiß nicht.“ Christa schüttelte leicht den Kopf und zog dabei die Schultern hoch. „Vielleicht hätte ich ihn fragen sollen.“

„Christa, also wirklich! Ja, das hättest du.“

Abschied – Am nächsten Vormittgag stand Christa an der Flurkommode und schob eine Tafel Schokolade in den gut gefüllten Leinenbeutel. Reiseproviant für Kamal. Im Spiegel sah sie ihn mit Hannes‘ alter Reisetasche in der Hand die Treppe hinunterkommen. Stufe für Stufe mit Blick auf die gerahmten Familienfotos an der Wand. Eine bunte Galerie: Hochzeit, Haus, Geburt, weiße, lachende Gesichter. Kein Foto von Kamal. Die Idee war Christa gar nicht gekommen. Er gehörte schließlich nicht zur Familie. Aber hätte er sich das vielleicht gewünscht? Jetzt glaubte sie, in Kamals Gesicht eine Mischung aus Sehnsucht, Bitterkeit und flackernder Wut zu erkennen.

Rasch wandte sie ihren Blick ab. Sie hatte etwas gesehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Sollte sie jetzt noch schnell ein Foto machen? Sie nahm ihr Handy von der Kommode und wollte Kamal bitten, stehen zu bleiben. Doch er ging ohne ein Wort an ihr vorbei zur Haustüre. Sie hatte gedacht, es sei leichter, ihn zu mögen oder sich wenigstens aneinander zu gewöhnen. Im Rausgehen reichte sie ihm den Proviantbeutel. Ihre Hände berührten sich nicht.

Notiz im Lokalteil der Tageszeitung

Flüchtlingshilfe in unserer Stadt – Beim Empfang in der Stadthalle kamen Einwohner und zugezogene Flüchtlinge zusammen, die hier zumindest vorübergehend ein neues Zuhause gefunden haben. Der Bürgermeister begrüßte alle und würdigte unter anderem den Kreis der engagierten BürgerInnen für ihr ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe. Ganz besonders dankte er den Familien, die ihr Haus für die Fremden geöffnet hatten. Sie hätten einen guten Draht zu den Menschen gefunden. Heimat sei nicht nur ein Ort, betonte er, Heimat sei auch ein Gefühl.

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