Das Meer in mir

Das letzte Mal überfiel es mich Ende September. An diesem Morgen saß ich am Küchentisch im trüben Homeoffice. Ich fütterte mein Hirn mit Zahlenkolonnen und Diagrammen, während der Liveticker mit seinen erschreckenden Nachrichten aus aller Welt über zu viel oder zu wenig Wasser, eine vierte Pandemie-Welle und andere Katastrophen über den unteren Rand des Bildschirms zog. Minute für Minute rutschte ich tiefer in meine Krise hinein. Welchen Sinn hatte meine Arbeit noch, wenn die Welt an allen Ecken und Enden in Katastrophen versank?

Gegen Mittag packte mich das Elend endgültig. In dieser Stimmung gab es kein Halten mehr. Ich blickte auf die Uhr: Ja, ich konnte es noch schaffen. Zwei Mails und ein Telefonat später klappte ich den Laptop zu und kochte mir eine Thermoskanne voll Tee. Ich suchte meine Standardausrüstung – Pullover, Brot, Käse, Schokolade – zusammen und verstaute alles in meinem Rucksack. Obendrauf zurrte ich meinen Schlafsack fest.  

Eine halbe Stunde später stieg ich ins Auto und fuhr los. Ich kannte jede Brücke und jeden Parkplatz auf der Strecke zur Ostsee. Wie immer wurde der Himmel ab Borselen heller und irgendwie leichter. Ich ließ das Fenster ein bisschen herunter, und sofort blies mir der Fahrtwind Salzgeruch in die Nase und Knoten in die Haare. Meine persönliche Glücksformel.

Die nächste Ausfahrt war meine.

Noch vor der blauen Stunde saß ich auf meiner Lieblingsdüne. Vor mir lag der Strand, und es roch nach Tang. Der Wind wehte mit einer leichten Brise über mich hinweg. Tiefe Atemzüge. Jeder einzelne ein Genuss. Als es kühler wurde. kroch ich in meinen Schlafsack, schloss die Augen und ließ das Meer durch meine Ohren rauschen, durch meinen Kopf, meine Glieder. Ich saugte am Salz auf meinen Lippen und genoss die pieksenden Sandkörner, die mir der aufkommende Wind über das Gesicht fegte.  Als ich die Augen wieder öffnete, stand der Mond hoch am Himmel und die ersten Sterne blinkten zu mir herunter.

Das Meer, mehr nicht. Alle paar Wochen brauche ich eine dieser besonderen Nächte. Das Meer übersteht immer alles, und immer, immer nimmt es meine Sorgen und Ängste, und auch die Diagramme und Katastrophen mit.

Mein Vater war Kapitän, und ich bin auf See geboren. Naja, nicht wirklich. Doch in meinem Kopf höre ich oft, wie mein Vater mir aus dem Störtebeker vorliest. Am Schluss klappte er es jedes Mal mit einem Knall zu und rief übertrieben sehnsuchtsvoll: „Ach, ich wäre so gerne zur See gefahren, aber irgendwie hat es sich nicht ergeben. Und jetzt ab mit dir in die Koje.“ Ich folgte dann seinem Blick auf das große Segelschiff auf dem Wohnzimmerschrank, sprang mit einem „Aye-aye, Käpt’n!“ auf, legte die rechte Hand zum Gruß an meine imaginäre Matrosenmütze und ging in meine Kajüte. Damals beschloss ich, dass es sich in meinem Leben anders ergeben würde.

Am nächsten Mittag war ich wieder zu Hause. Ein bisschen verfroren und voller Energie. Im Flur zog ich mir die Schuhe aus und ließ den Sand daraus direkt in das große Einmachglas neben dem Segelschiff auf der Kommode rieseln. Im Sommer ist das Glas voll, dann gehe ich endlich auf meinen ersten Segeltörn.

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