Der Kuss
„Du hast mich schon lange nicht mehr geküsst.“ Ihre Worte schießen quer über den Tisch zu ihm rüber.
Der Stich trifft ihn unerwartet. Sehr heftig. Paul faltet die Zeitung zusammen, langsam und sorgfältig, bevor er ihren Blick erwidert. Er lässt seine Worte wie beiläufig klingen.
„Wie meinst du das?“
„Naja, so wie früher eben.“
„Wann früher?“
„Du weißt genau, wie ich das meine, auf den Mund. So richtig. Seit ich krank bin, küsst du mich nicht mehr.“ Ihr Blick in seine Augen ist kurz. Unsicher. Dann greift sie nach ihrer Tasse. Paul sieht, dass ihre Hand dabei zittert.
Gerda hat recht. Er mag sie nicht mehr küssen. Nicht auf den Mund. Lieben ja. Aus vollem Herzen. Doch ihre Lippen sind trocken, ihr Atem riecht – nach Verwesung. Seit einiger Zeit fragt er sich, ob Organe in einem Körper verfaulen können. Er schämt sich, aber er kann nicht anders, er ekelt sich davor, seine Gerda, sein Täubchen auf den Mund zu küssen.
„Gerda, wir sind keine zwanzig mehr. Es hat sich ausgeküsst.“
„Ich sehe es dir an. Du lügst, du traust dich nur nicht, mir den wahren Grund zu sagen.“
Alles in Pauls Brust zieht sich beklemmend zusammen. Dumpfes Herzklopfen. Er hat Gerda selten belogen, ein bisschen mal was weggelassen. Mehr nicht. Jetzt muss er stark sein und sich überwinden, er darf sie nicht enttäuschen.
Paul steht auf, geht um den Tisch zu ihr hinüber und legt seine Hand in ihren Nacken.
„Gerda, mein Täubchen, komm her.“ Er beugt sich vor, hält den Atem an und drückt seine Lippen vorsichtig auf ihre. Völlig unerwartet lugt ein quicklebendiges Erbeben aus der Angst vor dem Todesgeruch hervor, breitet sich in ihm aus und überträgt sich auf Gerda. Und da ist er, ein heftiger Kuss wie früher, mit dem Bouquet von Gerda, Kaffee und Toast, begleitet vom ungewohnten Beigeschmack nach Medikamenten.
So kann der Tod nicht schmecken.
Birgit Sonnberger (2023)
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